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Gefährliche Leidenschaften

Cora ♦ 28. Juni 2011
Historical Gold
Originaltitel: Not Quite a Husband

Gefährliche Leidenschaften

Gewinnerin des RITA-Award 2010

Ihre Ehe währte kaum länger als die Flitterwochen – was keinen wirklich überrascht, am wenigsten die Braut Bryony selbst. Ein so attraktiver und begehrter Mann wie Leo Marsden und eine Frau wie sie, die gegen die guten Sitten verstößt, indem sie Ä rztin wird? Unmöglich! Aber warum nur folgt Leo ihr jetzt, drei Jahre nach der Trennung, ins ferne Indien? Leo wagt nicht zu hoffen, dass Bryony ihm jemals verzeiht. Aber er muss ihr eine lebenswichtige Nachricht übermitteln und sie sicher nach England zu ihrer Familie bringen. Ein gewagtes Vorhaben! Um sie herum tobt der Krieg – und noch immer weckt die schöne Bryony gefährlich heiße Leidenschaft in ihm …

Das Buch ist leider zur Zeit vergriffen.

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Leseprobe

Prolog

Im Lauf ihrer langen, glanzvollen Laufbahn war Bryony Asquith Gegenstand zahlreicher Artikel in Zeitungen und Zeitschriften. Darin wurde ihre Erscheinung fast immer als distinguiert und einzigartig beschrieben wurde, wobei auch stets die dramatische weiße Strähne in ihrem sonst rabenschwarzen Haar Erwähnung fand.

Gefährliche Leidenschaften

Die neugierigeren unter den Reportern fragten oft nach, wie sie zu der weißen Strähne gekommen sei. Darauf lächelte sie immer nur und berichtete kurz, in ihren Zwanzigern habe es eine Phase gegeben, in der sie sich furchtbar überarbeitet habe. "Das kam daher, dass ich tagelang nicht geschlafen hatte. Meine arme Zofe, sie war vollkommen außer sich."

Bryony Asquith war tatsächlich Ende der Zwanzig gewesen, als es passierte. Sie hatte tatsächlich zu viel gearbeitet. Und ihre Zofe war tatsächlich ziemlich außer sich geraten. Aber wie bei jeder Lüge wurde auch hier ein entscheidender Faktor verschwiegen: In diesem Fall handelte es sich um einen Mann.

Er hieß Quentin Leonidas Marsden. Sie hatte ihn schon ihr Leben lang gekannt, doch ehe er im Frühling 1893 in London auftauchte, hatte sie nie einen Gedanken an ihn verschwendet. Innerhalb weniger Wochen nach dem Wiedersehen machte sie ihm einen Heiratsantrag. Nach einem weiteren Monat waren sie Mann und Frau.

Von Anfang an hieß es, dass sie doch gar nicht zueinander passten. Er war der attraktivste, beliebteste und begabteste der fünf attraktiven, beliebten und begabten Söhne des siebten Earl of Wyden. Bei ihrer Heirat war er vierundzwanzig und hatte bereits zahllose Vorträge vor der Londoner Gesellschaft für Mathematik gehalten, ein Stück im St. James's Theater aufgeführt und eine Expedition nach Grönland unternommen.

Er war witzig, war überall begehrt und wurde allseits bewundert. Sie hingegen redete nur sehr wenig, war nirgends begehrt und wurde nur von einem sehr eingeschränkten Kreis von Menschen bewundert. Im Prinzip missbilligte die Gesellschaft ihren Beruf – und die Tatsache, dass sie überhaupt einen hatte. Die Tochter eines Gentlemans ließ sich zur Ä rztin ausbilden und ging dann jeden Tag zur Arbeit – jeden Tag, wie irgendein x-beliebiges Dienstmädchen – war das denn wirklich nötig?

Es gab andere ungewöhnliche Paare, die allen Unkenrufen zum Trotz zusammenblieben. Ihre Ehe aber ging elend schief. Zumindest was sie anging; sie war diejenige, die sich elend gefühlt hatte. Er hielt einen weiteren Vortrag vor der Gesellschaft für Mathematik, brachte eine viel beachteten Bericht über seine Abenteuer in Grönland heraus und wurde mehr denn je mit Lorbeeren überschüttet.

Bei ihrem ersten Hochzeitstag hatte sich die Lage weiter verschlimmert. Sie verriegelte die Tür zu ihrem Schlafzimmer und er, nun, ihrer Meinung nach übte er sich wohl nicht gerade in Enthaltsamkeit. Sie aßen nicht länger gemeinsam zu Abend. Sie redeten nicht einmal mehr miteinander, wenn sie sich zufällig begegneten.

So hätte es noch jahrzehntelang weitergehen können – wenn er nicht eine gewisse Bemerkung hätte fallen lassen, und zwar nicht ihr gegenüber.

Es war an einem Sommerabend, etwa vier Monate nachdem sie ihm zum ersten Mal seine ehelichen Rechte verweigert hatte. Sie kehrte früher als sonst nach Hause, vor Mitternacht, weil sie mittlerweile seit siebzig Stunden wach war – eine kleine Ruhrepidemie und eine Serie merkwürdiger Ausschläge hatten sie ans Mikroskop gefesselt, wenn sie nicht gerade Kranke behandelte.

Sie bezahlte den Droschkenkutscher und blieb dann einen Augenblick vor ihrem Haus stehen, reckte den Kopf und streckte prüfend die Hand aus, um die Regentropfen zu spüren. Die Nachtluft roch aufgeladen. In der Ferne grollte bereits der Donner. In der Ferne sah man Wetterleuchten – abtrünnige Engel, die mit Luzifer zündelten.

Als sie den Kopf senkte, stand Leo vor ihr und betrachtete sie kühl.

Er raubte ihr wortwörtlich den Atem: Sie bekam keine Luft mehr und hatte das Gefühl, ersticken zu müssen. Er weckte alle Begehrlichkeit, die in ihr steckte – und sie hatte eine Menge davon, versteckt in den dunklen Winkeln ihres Herzens.

Wenn sie allein gewesen wären, hätten sie sich zugenickt und wären ohne ein weiteres Wort aneinander vorbeigegangen. Doch Leo hatte einen Freund dabei, einen redseligen Kerl namens Wessex, der seine Galanterie gern an Bryony ausprobierte, obwohl Galanterie in etwa so viel Wirkung auf sie hatte wie eine Impfung auf einen Zementblock.

Sie hätten erstaunliches Glück im Spiel gehabt, berichtete Wessex, während Leo sich die Handschuhe glatt strich, immer wieder, einen Finger nach dem anderen, wie ein verstörter Kammerdiener. Mit wundem Herzen und bleierner Seele starrte sie auf seine Hände.

"… wahnsinnig klug, wie du das formuliert hast. Wie genau hast du es noch einmal ausgedrückt, Marsden?", erkundigte sich Wessex.

"Ich sagte, ein guter Spieler tritt mit einem Plan an den Tisch", erwiderte Leo ungeduldig, "während ein schlechter Spieler sich mit einem verzweifelten Gebet und voll blinder Hoffnung an den Tisch setzt."

Ihr war, als hätte man sie aus großer Höhe fallen lassen. Plötzlich verstand sie ihr Verhalten nur zu gut. Sie hatte gespielt. Und ihre Ehe war das Spiel, auf das sie alles gesetzt hatte. Denn wenn er sie liebte, würde sie dadurch ebenso schön, begehrenswert und bewundernswert wie er. Und sie würde damit all diejenigen ins Unrecht setzen, die sie nie geliebt hatten.

"Genau!", rief Wessex aus. "Das war's!"

"Wir sollten Mrs. Marsden nun etwas Ruhe gönnen, Wessex", sagte Leo. "Sie ist bestimmt erschöpft nach ihrem langen Arbeitstag im edlen Dienst am Menschen."

Sie warf ihm einen scharfen Blick zu. Er sah von seinen Handschuhen auf. Selbst in diesem trüben Licht verströmte er nichts als magische Anziehungskraft und Glanz. Sie stand immer noch vollkommen in seinem Bann und würde sich davon wohl auch nicht mehr lösen.

Gefährliche Leidenschaften

Als er nach London gekommen war, hatte sich die gesamte Damenwelt in ihn verliebt. Er hätte so anständig sein sollen, Bryony auszulachen und ihr zu erklären, dass eine altjüngferliche Ä rztin kein Recht hätte, einem Apoll einen Antrag zu machen, so groß ihr Erbe auch sein mochte. Er hätte ihr nicht dieses schiefe Lächeln schenken und sagen dürfen: "Na los, ich bin ganz Ohr."

"Gute Nacht, Mr. Wessex", sagte sie. "Gute Nacht, Mr. Marsden."

Zwei Stunden später, als der Sturm an den Fensterläden rüttelte, lag sie zitternd im Bett – sie hatte lang in der Badewanne zugebracht, so lang, bis das Wasser ebenso kalt war wie die Nacht.

Leo, dachte sie, wie jede Nacht. Leo. Leo. Leo.

Sie fuhr auf. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass diese Beschwörung seines Namens ihr verzweifeltes Gebet war, ihre blinde Hoffnung, geronnen zu einem einzigen Wort. Wann war die bloße Begierde zur Besessenheit geworden? Wann war er ihr Opium geworden, ihr Morphium?

Es gab viele Dinge, die sie ertragen konnte – die Welt steckte voll verschmähter Frauen, die dennoch hoch erhobenen Hauptes durchs Leben gingen. Aber an sich selbst konnte sie diese erbärmlichen Bedürfnisse nicht ertragen. Sie wollte nicht sein wie diese elenden Wracks, die ihr bei der Arbeit begegneten, die sich nach ihrem persönlichen Gift verzehrten, ihre Abhängigkeit liebevoll nährten, obwohl sie ihnen doch den letzten Fetzen Würde raubte.

Er war ihr Gift. Seinetwegen hatte sie alle Vernunft, alle Urteilskraft fahren lassen. Wenn sie ihn entbehren musste, konnte sie weder essen noch schlafen. Auch jetzt erinnerte sie sich voll Sehnsucht an die wenigen Momente allumfassenden Glücks, die sie mit ihm hatte erleben dürfen, als hätten sie noch immer eine Bedeutung, als glänzten sie noch immer makellos inmitten der Trümmer ihrer Ehe.

Aber wie konnte sie sich von ihm befreien? Sie waren verheiratet – die Hochzeit lag erst ein Jahr zurück, eine prachtvolle Veranstaltung, für die sie keine Kosten gescheut hatte, denn die ganze Welt hatte ja erfahren sollen, dass sie diejenige war, der er vor allen anderen den Vorzug gegeben hatte.

Draußen grollte Donner, so laut wie Artilleriegeschütze. Im Haus war alles ruhig und still. Von der Treppe oder aus dem Zimmer nebenan war nicht das geringste Knarren zu hören – von ihm hörte sie inzwischen überhaupt keine Geräusche mehr.

Die Dunkelheit erstickte sie förmlich.

Sie schüttelte den Kopf. Wenn sie nicht darüber nachdachte, wenn sie jeden Tag bis zur Erschöpfung arbeitete, konnte sie so tun, als wäre ihre Ehe keine vollkommene Katastrophe.

Dabei war sie doch genau das. Eine vollkommene Katastrophe, kalt wie Grönland und ungefähr genauso fruchtbar.

Beim nächsten Blitz kam ihr mit einem Mal die Lösung. Eigentlich war es ganz einfach. Sie verfügte über genügend Mittel, um die besten Rechtsanwälte damit zu beauftragen, irgendeine nachträgliche Ungültigkeitsklausel für die Hochzeit zu fabrizieren. Dies und eine kleine Lüge – Diese Ehe wurde nie vollzogen – würde ausreichen, um die Ehe für ungültig zu erklären.

Dann konnte sie von ihm loskommen, von den furchtbaren Konsequenzen des größten und einzigen Glücksspiels in ihrem Leben. Dann könnte sie vergessen, dass sie ins Herz getroffen worden war, dass sie mit ihm nichts als schwärende Enttäuschung erlebt hatte, die ebenso unerquicklich war wie ein Malariasumpf auf dem indischen Subkontinent. Dann könnte sie wieder frei atmen.

Nein, könnte sie nicht. Sie könnte ihn niemals verlassen. Wenn er sie anlächelte, ging sie wie auf Rosen. Die wenigen Male, wo sie ihm erlaubt hatte, sie zu küssen, hatte hinterher alles viele Stunden lang nach Milch und Honig geschmeckt.

Wenn sie um eine Annullierung der Ehe bat und sie bekam, würde er eine andere heiraten, und dann wäre diese andere seine Frau und würde ihm die Kinder schenken, die Bryony nicht bekommen konnte.

Sie wollte nicht, dass er sie vergaß. Sie alles würde ertragen, nur um ihn zu halten.

Sie konnte dieses verzweifelte, schniefende Geschöpf nicht ausstehen, in das sie sich verwandelt hatte.

Sie liebte ihn.

Sie hasste sowohl ihn als auch sich selbst.

Gefährliche Leidenschaften

Fröstelnd schlang sie die Arme um sich, wiegte sich vor und zurück und blickte in die Schatten, die sich einfach nicht auflösen wollten.

Am nächsten Morgen saß sie noch im Bett, die Arme um die Knie geschlungen, als ihre Zofe hereinkam. Molly ging im Zimmer herum, öffnete Vorhänge und Fensterläden, ließ den Tag herein.

Sie goss Bryony Tee ein, trat ans Bett und ließ das Tablett fallen. Scherben klirrten.

"Oh, Madame. Ihr Haar! Ihr Haar!"

Stumm sah Bryony auf. Molly eilte durch das Zimmer und kehrte mit einem Handspiegel zurück. "Sehen Sie, Madame. Sehen Sie."

Bryony fand, dass sie beinahe passabel aussehe für jemanden, der seit über drei Tagen nicht mehr richtig geschlafen hatte. Dann sah sie die Strähne in ihrem Haar, zwei Zoll breit und schneeweiß.

Der Spiegel fiel ihr aus der Hand.

"Ich hole Silbernitrat und rühre ein Färbemittel an", sagte Molly. "Niemand wird etwas auffallen."

"Nein, kein Silbernitrat", erwiderte Bryony mechanisch. "Das ist schädlich."

"Dann eben Eisensulfat. Ich könnte auch ein bisschen Henna mit Ammoniak mischen, aber ich weiß nicht, ob …"

"Ja, tun Sie das", erklärte Bryony.

Als Molly das Zimmer verlassen hatte, hob Bryony den Spiegel auf. Sie sah seltsam aus, seltsam und seltsam verletzlich – das Elend, das sie so sorgfältig verborgen hatte, war durch die durchsichtig schimmernde Strähne weißen Haars plötzlich für alle Welt sichtbar geworden. Und sie konnte niemand anderen dafür verantwortlich machen. Sie selbst hatte sich das angetan, mit ihrer unerbittlichen Bedürftigkeit, ihren Wahnvorstellungen, ihrer Bereitschaft, alles für eine sagenhafte Erfüllung aufs Spiel zu setzen, die ihre fiebrige Fantasie ihr vorgaukelte.

Entschlossen legte sie den Spiegel weg, schlang die Arme um die Knie und begann wieder, sich vor und zurück zu wiegen. Ein paar Minuten blieben ihr noch, ehe Molly mit dem Färbemittel zurückkam, ehe sie ein Treffen mit ihm vereinbaren musste, um die Auflösung ihrer Ehe ruhig und sachlich zu besprechen.

Aber davor würde sie sich eine letzte Schwelgerei erlauben.

Leo, dachte sie. Leo. Leo. Leo. So hätte es nicht enden dürfen.

So hätte es nicht enden dürfen.

1. Kapitel

Rumbur-Tal
Bezirk Chitral
Nordwestliches Grenzgebiet von Britisch-Indien
Sommer 1897

In der hellen Nachmittagssonne hob sich die weiße Strähne wie eine unfruchtbare Furche von ihrem tiefschwarzem Haar ab. Sie begann rechts an der Stirn, zog sich über den Hinterkopf und wand sich in einer auffälligen und gespenstischen Arabeske durch ihren Knoten im Nacken.

Sie rief eine merkwürdige Reaktion in ihm hervor. Kein Mitleid; für sie würde er genauso wenig Mitleid empfinden wie für den einsamen Himalaja-Wolf. Auch keine Zuneigung, dem hatte sie mit ihrer Gefühllosigkeit und Herzenskälte ein Ende bereitet. Vielleicht war es eher eine Art Nachhall, eine Erinnerung an die Hoffnungen aus unschuldigeren Tagen.

Gekleidet in eine weiße Bluse und einen dunkelblauen Rock, saß sie zwischen zwei Angelruten, die in zehn Fuß Abstand voneinander aufgepflanzt waren, einen Eimer Wasser neben sich, in der Hand einen Zweig, mit dem sie in dem rasch dahinsprudelnden Wasser müßig Muster zog.

Gefährliche Leidenschaften

Auf der anderen Seite des Flusses erstreckte sich die golden leuchtende schmale Schwemmlandebene – sie trug den Winterweizen, der bereit stand zur Ernte. Dahinter stieg das Land an; wie verwitterte Bauklötze türmten sich kleine, eckige Häuser aus Holz und Stein übereinander an den Hang. Jenseits des Dorfes schmiegte sich ein Wäldchen von Aprikosen- und Walnussbäumen an die immer steiler aufragenden Hügel, und dann zeigte sich das Rückgrat der Berge selbst, strenge Felsen, auf denen nur noch vereinzelt Büsche oder die eine oder andere Himalaja-Zeder wuchsen.

"Bryony", sagte er. Er hatte Kopfschmerzen, doch er musste mit ihr reden.

Sie erstarrte. Der Zweig wurde von der Strömung davongetragen, blieb an einem Felsen hängen, drehte sich einmal um sich und trieb dann weiter. Den Blick immer noch auf den Fluss gerichtet, schlang sie die Arme um die Knie. "Mr. Marsden, wie unerwartet. Was hast du in diesem Teil der Welt zu suchen?"

"Dein Vater ist krank. Deine Schwester hat mehrmals nach Leh gekabelt, und als von dir keine Antwort kam, hat sie mich gebeten, nach dir zu suchen."

"Was fehlt meinem Vater denn?"

"Ich weiß nichts Genaues. Callista sagte nur, dass die Ä rzte keine große Hoffnung haben und dass er dich sehen möchte."

Sie erhob sich und drehte sich endlich zu ihm um.

Auf den ersten Blick wirkte ihre Miene äußerst ruhig und freundlich. Dann jedoch bemerkte er, wie trostlos der Ausdruck ihrer grünen Augen war, wie bei einer Nonne, die kurz davor stand, ihren Glauben zu verlieren. Sobald sie das Wort ergriff, schwand der Eindruck ergebener Melancholie, denn sie hatte die abweisendste Stimme, die er je gehört hatte – nicht unfreundlich oder laut, sondern vollkommen selbstgenügsam und wenig interessiert an allem, was nicht mit Krankheiten zu tun hatte.

Aber im Augenblick schwieg sie. Sie erinnerte ihn an einen steinernen Engel, der mit sanftem, beständigem Mitgefühl über die Verstorbenen wachte.

"Du glaubst Callista?", fragte sie, worauf sich die ähnlichkeit verflüchtigte.

"Sollte ich das nicht?"

"Nur wenn du im Herbst 1895 im Sterben lagst."

"Wie bitte?"

"Das hat sie behauptet. Sie sagte, du hieltest dich irgendwo in der amerikanischen Ödnis auf, lägst im Sterben und wolltest mich ein letztes Mal sehen."

"Ach so", sagte er. "Ist das eine Angewohnheit von ihr?"

"Bist du verlobt?"

"Nein." Obwohl er es eigentlich sein sollte. Er kannte eine ganze Reihe schöner, liebevoller junger Damen, von denen jede eine passende Ehefrau abgeben würde.

"Callista behauptet das aber. Und dass du dem armen Mädchen mit Freuden den Laufpass geben würdest, wenn ich dich nur darum bäte." Sie sah ihn nicht an, als sie das sagte, sondern hatte den Blick auf den Boden gerichtet. "Tut mir leid, dass sie dich in ihre Lügengeschichten verwickelt hat. Und ich bin dir wirklich sehr dankbar, dass du diese weite Reise auf dich genommen hast …"

"Aber es wäre dir lieber, wenn ich auf der Stelle umkehren und verschwinden würde?"

Schweigen. "Nein, natürlich nicht. Du musst dich ausruhen und mit neuen Vorräten versorgen."

Gefährliche Leidenschaften

"Und wenn ich mich nicht ausruhen und mit neuen Vorräten versorgen müsste?"

Sie schwieg und wandte sich von ihm ab. Dann bückte sie sich, hob eine Angel auf und zog etwas an Land, das sich zappelnd wehrte.

Wochenlang war er durch die unwirtlichsten Gegenden der Erde gezogen, hatte auf dem kalten, harten Boden geschlafen, nur ein paar Handvoll wilde Beeren gegessen oder das, was ihm vor das Gewehr kam, damit er sich nicht mit einer Schar Kulis belasten musste, die all die Gegenstände schleppten, die für einen sahib auf Reisen gemeinhin als unentbehrlich galten – und das war ihre Antwort.

Etwas anderes durfte man von ihr einfach nicht erwarten.

"Selbst wer dreimal lügt, kann einmal die Wahrheit sprechen", sagte er. "Dein Vater ist dreiundsechzig. Ist es denn so unwahrscheinlich, dass ein Mann in seinem Alter kränklich ist?"

Mit einer geschickten Drehung des Handgelenks nahm sie den Fisch vom Haken und warf ihn in den Eimer. "Nach England ist es eine sechswöchige Reise, und das auf die geringe Chance hin, dass Callista die Wahrheit gesagt hat."

"Aber wenn sie die Wahrheit gesagt hat, wirst du es immer bereuen, nicht gefahren zu sein."

"Da bin ich mir nicht so sicher."

Die gleichmütige Haltung, mit der sie fast der gesamten Schöpfung begegnete, hatte ihn einst fasziniert. Er hatte sie für kompliziert und außergewöhnlich gehalten. Aber nein, sie war einfach kalt und gefühllos.

"Die Reise braucht nicht unbedingt sechs Wochen zu dauern", meinte er. "Man kann sie auch in vier Wochen hinter sich bringen."

Sie sah ihn an; ihre Miene war unnachgiebig. "Nein, danke."

Von Gilgit, wo er friedlich seinen Geschäften nachgegangen war, waren es dreihundertsiebzig Meilen nach Leh und ebenso viele zurück nach Gilgit, und dann zweihundertzwanzig Meilen nach Chitral. Meist hatte er an einem Tag drei Etappen zurückgelegt, manchmal vier. Er hatte ganze fünfzehn Pfund abgenommen. Und er war seit Grönland nicht mehr so müde gewesen.

Zum Kuckuck mit ihr.

"Also schön." Er verneigte sich leicht. "Dann wünsche ich noch einen guten Tag, meine Liebe."

"Warte", sagte sie – und zögerte.

Er drehte sich halb zu ihr um.

Als sie sich in ihn verliebt hatte, war er ein wunderbarer junger Mann gewesen, schön wie ein dunkelhaariger Adonis und verspielt wie ein junger Dionysseus. Gegen Ende ihrer Ehe hatte er bereits einiges von dem trügerisch engelhaften Liebreiz seines Ä ußeren verloren. Sein Profil war kantiger und ausdrucksvoller geworden und erinnerte nun an die trostlosen Höhenzüge, hinter denen sich die Täler der Kalasha verbargen.

"Brichst du jetzt schon auf?", fragte sie. Sie wusste nicht, welche Antwort sie hören wollte – aber es wäre ungehobelt gewesen, ihm nicht wenigstens eine Tasse Tee anzubieten.

"Nein. Ich habe versprochen, mit deinen Freunden, Mr. und Mrs. Braeburn, Tee zu trinken."

"Du hast sie schon kennengelernt?"

Gefährliche Leidenschaften

"Sie waren es, die mich zu dir geführt haben", erwiderte er. Sein Ton war nüchtern, doch eine Spur ungeduldig.

Plötzlich war sie besorgt. "Und was hast du ihnen von uns erzählt?"

Er hatte den Braeburns doch bestimmt nicht von ihrer kurzen, unglücklichen Ehe erzählt.

"Ich habe ihnen gar nichts erzählt. Ich habe ihnen eine Fotografie von dir gezeigt und gefragt, ob ich dich hier vielleicht finden könnte."

Sie blinzelte. Er besaß eine Fotografie von ihr? "Was für eine Fotografie?"

Er schob die Hand in Tasche, zog einen quadratischen Umschlag heraus und hielt ihn ihr hin. Seine Miene war so erschöpft, dass sie ihr gar nichts verriet. Einen Augenblick zögerte sie, dann wischte sie sich die Hände mit einem Taschentuch sauber, ging zu ihm und nahm den Umschlag entgegen.

Sie öffnete die nur eingesteckte Lasche und zog die Fotografie heraus. Ihre Augen begannen zu brennen. Es war ein Hochzeitsbild. Ihr Hochzeitsbild.

"Woher hast du das?"

Einen Tag nachdem sie um die Annullierung ihrer Ehe gebeten hatte, war er aus ihrem Haus im Londoner Stadtteil Belgravia ausgezogen und hatte dabei seinen Abzug des Hochzeitsbildes auf seinem Nachttisch stehen lassen. Sie hatte es gemeinsam mit ihrem Abzug verbrannt.

"Charlie gab es mir, als ich durch Delhi kam." Charles Marsden war Leos zweitältester Bruder. Einst war er Repräsentant der Briten in Gilgit, einer weiteren Basisstation an der Nordwestgrenze Indiens gewesen, im Moment war er der persönliche Adjutant von Lord Elgin, dem Generalgouverneur und Vizekönig von Indien. "Vermutlich hat er nicht verstanden, was ich ihm sagen wollte, als ich es bei der Abreise stehen ließ. Er hat es mir später per Post nachschicken lassen."

"Was haben die Braeburns denn gesagt, als du ihnen das Bild gezeigt hast?"

"Dass ich dich flussaufwärts an der Mühle beim Fischen finden würde."

"Haben sie dich … haben sie dich erkannt?"

"Ich glaube, ja", erwiderte er kühl.

Das konnte doch alles nicht wahr sein. Der Mann, der einmal ihr Ehemann gewesen war, stand in Wirklichkeit gar nicht vor ihr, nach Pferd riechend, voll Straßenstaub, mit einer vor Müdigkeit heiseren Stimme. Er wollte nicht, dass sie mit ihm mitkam. Und er hatte sie vor den freundlichen, anständigen Braeburns nicht als Heuchlerin bloßgestellt.

"Und was willst du ihnen jetzt gleich sagen, wenn du mit ihnen Tee trinkst?"

Er lächelte. Es war kein sehr angenehmes Lächeln. "Das hängt ganz von dir ab. Falls wir gleich nach dem Tee aufbrechen, würde ich eine wunderbare Geschichte über eine erzwungene Trennung erfinden, über herzzerreißende Sehnsucht und ein freudiges Wiedersehen hier an diesem unwegsamen Ort. Andernfalls sage ich ihnen, dass wir geschieden sind."

"Wir sind nicht geschieden."

"Lass doch die Haarspaltereien. Im Prinzip war es eine Scheidung, auch wenn es nicht so hieß."

"Sie werden dir nicht glauben."

Gefährliche Leidenschaften

"Und dir werden sie glauben, wo du ihnen bis eben noch die trauernde Witwe vorgespielt hast?"

Sie atmete tief durch und wandte den Kopf. "Das lässt sich nicht ändern. Für mich bist du auch gestorben."

Hin und wieder kam es vor, dass sie bei den banalsten Tätigkeiten – etwa wenn sie sich den Schuh band oder einen medizinischen Fachartikel las – praktisch aus dem Nichts von einer fast körperlich spürbaren Erinnerung überrollt wurde.

Die Blume, die er an jenem Abend im Knopfloch stecken hatte, als er sie zum ersten Mal geküsst hatte – eine Stephanotis, strahlend weiß und so winzig und lieblich wie eine Schneeflocke.

Die Regentropfen auf warmer Wolle, als sie die Hand auf seinen Arm gelegt hatte – er war mit ihr auf den Gehsteig getreten, um sie bis zur Kutsche zu begleiten – und die wunderbare Stille, die eintrat, als er lächelnd durch den offenstehenden Schlag der Kutsche sagte: "Nun, warum nicht? Mit dir verheiratet zu sein wäre keine Quälerei."

Das beinahe regenbogenbunte Sonnenlicht, das sich auf der Kette seiner emaillierten Taschenuhr brach, die sie ihm zur Verlobung geschenkt hatte. Er hielt sie hoch in die Luft und starrte darauf, während sie ihn darum bat, sie bei der Annullierung ihrer Ehe zu unterstützen.

Meist waren diese aufwallenden Erinnerungen jedoch nichts als Phantomschmerzen, nervöse Fehlzündungen von längst amputierten Gliedern.

Für mich bist du auch gestorben.

Er bewegte sich, als hätte sie ihn zurückgestoßen. Als würde er zurückzucken. Doch seine Antwort klang vollkommen gelassen. "Also gut, dann eben geschieden."

Historischer Hintergrund

"Gefährliche Leidenschaften" nimmt seinen Anfang im Rumbur-Tal, an der nordwestlichen Grenze von Britisch-Indien (O.k., eigentlich beginnt es in England, aber das hier ist das Vorwort). Das Rumbur-Tal ist eines der drei Kalash-Täler. Der Name stammt vom einzigartien Kalasha-Stamm, der in diesen Tälern lebt.

Der Stamm der Kalasha glaubt an ein heidnisches Götterpantheon und sieht sich selbst als Nachfahren der Krieger von Alexander dem Griechen – es ist nicht ungewöhnlich, unter den Kalashas helles Haar und blaue/grüne Augen zu finden. Die Kalasha-Täler fielen zufälligerweise auf die britische Seite der Durand-Linie und der Kalasha-Bevölkerung wurde ihr alter Glaube gelassen, erst unter britischer Besatzung, später unter dem pakistanischen Grundgesetz. Der Kafir-Stamm in Afghanistan dagegen wurde zwischen 1890 und 1900 von Amir von Kabul zum Islam zwangskonvertiert.

Die Tracht der Kalasha-Frauen ist relativ auffallend: Ein schwarzes Gewand, bunt bestickt, mehrreihige Perlen-Halsketten und Frisuren, die mit Schmuck aus Kaurischnecken-Häusern verziert sind.

Kalasha girls in their distinctive dresses

Image by Dave Watts

Kalasha girl with headdress and beaded necklace

Image by Dave Watts

Ein typisches Dorf der Kalasha: Die quadratischen Häuser sehen aus, als wären sie am Hang übereinandergestapelt.

Kalasha Village near Balanguru

Image by Yodod

Leo und Bryony verlassen das Rumbur-Tal und folgen dem Lauf des Rumbur-Flusses. Sie kommen im Chitral-Tal an. Chitral ist ein stragischer Stützpunkt für die Briten, die zu dieser Zeit befürchten, dass die Russen jederzeit einmarschieren könnten, um ihren Kronjuwel Indien einzunehmen.

Chitral Valley

Das Chitral-Tal wird im Norden landschaftlich vom Tirich Mir, dem höchsten Gebirgszug des Hindu Kushs, dominiert. Leo und Bryony allerdings würden den Tirich Mir nur sehen, wenn sie zurückschauen, da sie nicht in Richtung Norden ziehen, sondern nach Süden, Richtung Flachland.

Tirich Mir

Image by Dave Watts

Um zum Chitral-Tal zu gelangen, trotzen Leo und Bryony dem Lowari-Pass auf einer Höhe von 3.120 Metern. Der steile Berghang kann nur durch das Begehen von mehreren äußerst schmalen Bergpfaden überwunden werden.

Lowari Pass

Image by Rchughtai

Das obige Bild zeigt eigentlich nur den Passabstieg, der nicht im Mindesten so steil und dramatisch ist wie der Aufstieg. Hier ist eine Luftaufnahme des Aufstiegs Richtung Lowari-Pass. Beachten Sie die Zick-Zack-Routen.

Lowari Pass

Nachdem die beiden den Lowari-Pass hinter sich gelassen haben, nähern sie sich immer mehr dem Swat-Tal.

Swat River

Das Swat-Tal wird auch die Schweiz von Pakistan genannt – tun Sie sich den Gefallen und schauen Sie sich diese spektakulären Bilder hier an. Doch das Swat-Tal war damals im Sommer 1987 vor allem spektakulär gefährlich. Inspiriert vom Mahnruf eines gewissen Mad Fakir, hat sich die Bevölkerung zu einer schnellen, gewalttätigen Rebellion aufgeschwungen, die die lokale britische Garnison fest in ihre Gewalt gebracht hat. Der Brennpunkt des Konflikts tobte im Zentrum der britischen Niederlassungen in Malakand sowie dem Außenposten Chakdara. Weiter unten finden Sie ein altes Foto des britischen Lagers bei Malakand.

Malakand Camp South

Um das Fort bei Chakdara anzuschauen, das eine der Hauptkulissen in "Gefährliche Leidenschaften" ist, klicken Sie bitte hier.

Route Map (oder was auch immer ich über Google Earth herausfinden konnte):

NQAH Route

Ihre Reise beginnt im Kalasha-Tal Balanguru. Von Nowshera fahren sie mit dem Zug weiter. Die gelbe Linie ist die Grenze zu Afghanistan. Die rote Linie ist die Grenze zwischen NWFP und FANA.

Bitte beachten Sie: Alle Links führen zu englischen Websites.